Perfektionismus

Laura ist (zu) streng mit sich

Laura ist eine Achtklässlerin und eigentlich eine hervorragende Schülerin. Trotz ihrer guten bis sehr guten Noten hat sie das Gefühl, sie sei zu schlecht. Typische Gedanken sind: «Ich bin schlechter als andere.» Oder nach einer guten Schulnote anstelle einer sehr guten: «Das hätte ich besser machen sollen.» Obwohl ihre Familie und ihre Freund:innen ihr immer wieder bestätigen, dass sie es toll macht, dass sie eine tolle Freundin, Schülerin und Schwester ist, fällt es ihr sehr schwer, dies anzunehmen. Das führt dazu, dass Laura oft in negativen Gedanken gefangen ist, sich deshalb auch schlecht und minderwertig fühlt. Man spricht hier auch von einem tiefen Selbstwert. Deswegen hat sie zum Teil auch psychosomatische Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Schlafstörungen. Wie könnte die Burggemeinschaft hier helfen? Falls Ihr Kind auch einen tiefen Selbstwert hat, versuchen Sie zunächst (zusammen mit Ihrem Kind) zu überlegen, welche Burgbewohnerinnen hier aktiv sein könnten. Danach erfahren Sie im nächsten Abschnitt, was hilft.

Wenn Sie nicht spontan herausfinden, welche Burgbewohnerinnen bei Laura eine Rolle spielen, dann können Sie ihre typischen Selbstaussagen wie «Ich bin schlecht» oder «Ich könnte es besser machen» mit der Gedankentabelle im Anhang abgleichen, um zu sehen, von welcher Burgbewohnerin solche Aussagen typischerweise stammen. Sie werden auf die strenge Richterin stoßen.

An erster Stelle steht immer die genauere Betrachtung der «aktivierten» Burgbewohnerin. Warum sagt sie das? Was will sie? Was ist ihre positive Absicht? Dazu nehmen Sie zusammen mit Ihrem Kind die Charakterkarte der strengen Richterin zur Hand und befassen sich anhand der Angaben auf der Rückseite mit ihr. Dort werden Sie finden, dass die Richterin für die Kritik verantwortlich ist, was an sich nichts Schlechtes ist. Bei der Absicht steht «Schutz vor Scham», was daher rührt, dass ich mich durch Selbstoptimierung vor Ablehnung schützen möchte. Wenn ich mich schlecht verhalte und/oder schlechte Leistungen bringe, dann müsste ich mich schämen und ich würde abgelehnt werden. Das will meine strenge Richterin um jeden Preis verhindern. Deshalb ist sie so streng mit mir. Kurz ausgedrückt: Das Ziel der strengen Richterin in mir ist, dass ich mich verbessern kann. Wenn ich beispielsweise eine Zeichnung gemacht habe und sich dann in mir die Stimme der strengen Richterin meldet, dann sagt sie vielleicht: «Diese Zeichnung ist schlecht. Das kannst du besser.» Dann werde ich die Zeichnung wiederholen. Das Endresultat ist dann, dass die zweite Zeichnung wahrscheinlich besser ist. Somit hat mir meine strenge Richterin geholfen, eine bessere Leistung zu erbringen. So weit so gut. Was aber, wenn sie es übertreibt? Was wenn nichts gut genug ist? Wenn ich (die strenge Richterin in mir) immer und überall nach Fehlern sucht? Dann ist meine strenge Richterin in eine ungesunde Extremform gekippt und macht mir verständlicherweise zu schaffen. So wie sie es auch bei Laura tut.

Wir wissen nun also, dass wir es mit der strengen Richterin zu tun haben. Es ist Zeit für Laura, einen Burgrat abzuhalten:

1. Stopp, Burgrat: Laura realisiert, dass sie ihren negativen Gedanken nicht hilflos ausgesetzt ist. Als weise Burgherrin kann sie einen Burgrat einberufen und herausfinden, warum die strenge Richterin so streng ist und wer ihr helfen könnte, dass sie mehr Ausgeglichenheit und Gelassenheit erleben kann.

2. Zuhören: Die weise Burgherrin hört der strengen Richterin zu und erfährt, warum diese so streng ist. Zu diesem Zweck kann sich Laura ganz in die Rolle der Richterin begeben und in ihrem Sinn erzählen, warum sie so streng ist und was sie eigentlich will: «Ich bin so streng mit uns (der Burggemeinschaft), weil ich möchte, dass wir uns verbessern. Wenn wir uns verbessern, dann werden wir von allen gemocht. Wenn wir uns weniger anstrengen würden, dann werden wir schlechter und andere könnten uns ablehnen. Dann wären wir traurig. Das will ich um jeden Preis verhindern.»

In der Phase des Zuhörens kann die weise Burgherrin darauf antworten. Laura kann sich dafür nun in die Rolle der weisen Burgherrin begeben und der strengen Richterin antworten: «Strenge Richterin. Ich finde es toll, dass du möchtest, dass wir immer besser werden. Du hast damit bei uns auch schon viel erreicht und wir sind eine sehr gute Schülerin. Aber ich finde es auch sehr anstrengend, dass du sozusagen nie zufrieden bist. Ich glaube, dass uns ein bisschen mehr Gelassenheit guttäte.»

An dieser Stelle überlegt sich die weise Burgherrin, wer in dieser Situation die Helferin der strengen Richterin sein könnte. Wenn es ihr nicht spontan in den Sinn kommt, dann kann sie in der Tabelle im Anhang oder in Kapitel 4 nachschauen. Dort wird sie die stolze Heerführerin und den freien Adler finden. Auf der Rückseite der jeweiligen Charakterkarten und im Abschnitt 4 dieser Anleitung erfährt Laura, wofür diese zwei Burgbewohner:innen zuständig sind. Gut ist, wenn man jeweils ein konkretes Beispiel nimmt. Nehmen wir hier eine gute statt ausgezeichneter Schulnote und spielen es durch.

Strenge Richterin: «Diese Schulnote entspricht überhaupt nicht unseren Erwartungen. Wir müssen uns mehr anstrengen. So schlecht waren wir noch nie.»

Weise Burgherrin: «Ich sehe, strenge Richterin, du bist heute wieder sehr streng und unzufrieden. Aber: Du bist nicht die Einzige hier. Mich würde interessieren, was die stolze Heerführerin und der freie Adler dazu meinen.»

Stolze Heerführerin: «Ich bin so froh, dass wir eine gute anstelle einer ungenügenden Note erhalten haben. Wisst ihr noch, wie die misstrauische Beraterin (zuständig für Zukunftssorgen) das Schlimmste befürchtet hatte?

Freier Adler: «Schulnoten sind doch nicht das Wichtigste im Leben! Für mich zählt vor allem unsere Familie und dass wir gesund sind.»

Entscheiden: Das bedeutet, dass die weise Burgherrin nun aufgrund der verschiedenen Aussagen der betreffenden Burgbewohnerinnen entscheiden kann, was sie weiter tun will. In diesem Fall könnte sich Laura dafür entscheiden, nicht weiter an dieser Schulnote herumzugrübeln («Ich kann sie sowieso nicht mehr ändern», stellt die weise Burgherrin fest), sondern sich zu ihrer Familie ins Wohnzimmer zu gesellen und sich gemeinsam mit ihnen eine Fernsehserie anzuschauen. Wenn sich in ihren Gedanken die strenge Richterin dann wieder mit dem Notenthema meldet, kann sie sich sagen: «Aha. Du denkst immer noch an diese Note.» Mehr muss sie nicht tun in diesem Moment. Entscheidend ist, dass Laura sich mithilfe des Modells der Burggemeinschaft bewusst machen konnte, dass nicht sie (als weise Burgherrin) an der Note herumstudiert, sondern ihre strenge Richterin, die es ja bekanntlich gut meint mit ihr. Das hilft. Laura disidentifiziert sich von ihrer strengen Richterin und merkt, dass sie mehr ist als ihre selbstkritische Stimme. Dank des Burgrates hat sie auch festgestellt, dass es in ihr nicht nur Selbstkritik, sondern auch Lob und Zuversicht (stolze Heerführerin) und Freiheit (freier Adler) gibt und sie fühlt sich dadurch schon etwas besser